Was heißt hier eigentlich Paartanz?

Friederike Reif • Feb. 19, 2024

Eine differenzierte Definition

Paartanz! Kennt man doch. Da tanzen zwei Menschen zusammen.

Doch wie unterscheidet sich Gesellschaftstanz von Folklore oder dem Menuett? Wo lässt sich Lindy Hop einordnen und ist Contact Improvisation ein Paartanz? Da tanzen immerhin auch oft zwei Menschen zusammen.

Das, was wir als unseren heutigen, modernen Paartanz kennen, hat seine Wurzeln im Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu der Zeit gab es eine Vielzahl an Neuerungen und Entwicklungen im Bühnen- und Paartanz, weshalb diese Zeit als der Beginn der ‚Tanzmoderne‘ bezeichnet wird (vgl. Jeschke, 1999; Klein 2014; Kusser, 2013). Es fehlt in der Literatur zum Paartanz größtenteils an klaren Definitionen und es wird deutlich, dass Begriffe für Paartanz aufgrund kultureller Unterschiede und Dynamiken auf verschiedene Weise genutzt werden.

Doch warum ist es relevant, wie wir über Tanz sprechen? In Archiven, der Wissenschaft und der Tanzkunst wird Paartanz stark vernachlässigt. Diese drei Instanzen ermöglichen jedoch kulturelle Wertschätzung, Finanzierung und Weiterentwicklung von den Themen, denen sie sich widmen. Hier findet Paartanz in Deutschland faktisch kaum statt und dessen Sichtbarkeit, sowie das künstlerische und wissenschaftliche Verständnis von Paartanz steckt noch in den Kinderschuhen. Mit wenigen Ausnahmen liest sich auch die deutsche Geschichtsschreibung von Tanz als eine Geschichte vom Bühnentanz - und dass, obwohl die meisten Deutschen mit ihrem eigenen Körper eher mit Paartanz sozialisiert werden. 

Diese Vernachlässigung von Paartanz bringt auch einige Unstimmigkeiten in den genutzten Begrifflichkeiten mit sich.


1      Die Problematik von Definitionen

Mit welchen Benennungen von Paartanz haben wir es im deutschsprachigen Raum zu tun? Die Auswahl ist hier recht begrenzt:

  • Paartanz
  • Gesellschaftstanz
  • Tanzsport
  • Volkstanz

Im englischsprachigen Raum ist die Terminologie etwas differenzierter:

  • Social dance
  • Popular dance
  • Ballroom dance
  • Folk dance
  • Vernacular dance

Deutschsprachig gibt es die Herausforderung, dass es keine praktizierte Übersetzung für Social, Popular oder Vernacular Dance gibt (Die Übersetzung von ‚vernacular‘ ergibt beispielsweise „muttersprachlich, funktional, volksnah“ und für ‚Vernacular Dance‘ gibt es keine direkte Übersetzung. ‚Social Dance‘ wird als ‚Gesellschaftanz‘ übersetzt). Diese drei englischen Begriffe werden zudem in der englischsprachigen Literatur größtenteils synonym verwendet (vgl. Malnig, 2009, S. 4; Cohen-Stratyner 2001, S. 121). Also fehlt auch hier eine klare Trennung.

Jetzt geht es im Folgenden theoretisch ans Eingemachte. Du willst mehr wissen und möchtest eine knackige Übersicht haben? Dann scrolle einmal bis zum Ende des Artikels.


2      Ein wissenschaftlicher Einblick

Wissenschaftliche Publikationen setzen leider kaum Definitionen von Paartanz und seinen Ausprägungen. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Definitionen aus dem englischsprachigen Raum, da es für den deutschsprachigen Raum keine Definitionsversuche gibt. Schauen wir uns an, was sich finden lässt:

Julie Malnig konzeptualisiert für ihre herausragende Anthologie Ballroom, Boogie, Shimmy Sham, Shake: A Social and Popular Dance Reader die Begriffe Popular, Social und Vernacular Dance. Vernacular Dance verortet sie in kulturellen Gruppierungen und Gemeinschaften, welche Tanz informell und traditionell in sozialen und kulturellen Netzwerken vermitteln und wo der Tanz auch in spezifische gesellschaftliche Ereignisse eingebettet ist. Social und Folk Dance ordnet sie dem Vernacular Dance unter. Malnig differenziert Social Dance von Folk Dance: Dieser entstehe aus vorbestehenden homogenen, kulturellen Gruppierungen Sie erklärt im Unterschied soziale Gemeinschaft des Social Dance als durch den Tanz selbst kreiert. Popular Dance setzt sie gleich zu Social Dance mit einer Betonung von einer Popularisierung des Tanzes mit Bekanntheit und ausgeübter Praxis einer weiten Bevölkerungsgruppe (vgl. ebd. 4f). Dies Definition von populärem Paartanz deckt sich mit der von Claudia Jeschke: […] so wird damit die außergewöhnliche Beliebt- oder Bekanntheit dieses Tanzes innerhalb einer tanzenden Gruppe bezeichnet, die sich möglicherweise durch die Popularität des betreffenden Tanzes vergrößert und/oder entgrenzt hat. (Jeschke, 1999, S. 60)


Kulturelle Be- und Entwertung von Paartänzen

Barbara Cohen-Stratyner diskutiert die kulturelle Voreingenommenheit in Definitionen von Vernacular, Social und Popular Dance in ihrem sehr lesenswerten Essay Issues in Social and Vernacular Dance – Social Dance: Contexts and Definitions (2001) und kritisiert die Definition in Relation oder Abgrenzung zum choreografierten Bühnentanz: […] in dance history (and folklore, ethnography, and anthropology), a dance is assumed to be popular/social/vernacular, unless specifically stated as performance, created, and/or choreographed. It is unlikely that this assumption is accurate. (Cohen-Stratyner 2001, S. 121)

Als überholtes Beispiel nennt Cohen-Stratyner, dass Social Dance ethnografisch definiert wird: als Form eines sozialen Ordnungssystems, welches gesellschaftliche Normen im Rahmen von Feier- oder Paarungsritualen stärkt. Sie und Malnig betonen die Problematik dieser Abhängigkeit einer Definition von den sozialen (und oft implizit als primitiv erachteteten) Kontexten von Social Dance, da sich die Kontexte verändern: Ein Tanz wird beispielsweise folkloristisch getanzt und bewegt sich in die Populärkultur, elitäre Kreise oder den Bühnentanz und umgekehrt (vgl. Cohen-Stratyner 2001, S. 121; Malnig, 2009, S. 4). Diese Mobilität von Paartänzen durch verschiedene soziale, kulturelle und gesellschaftliche Bedeutungsebenen erscheinen in verschiedenen Publikationen (vgl.Cresswell 2006; Robinson 2015; Klein 2014; Jeschke, 1999). Claudia Jeschke setzt dieses Phänomen in Verbindung mit der Popularisierung von Paartänzen: Die in Europa, auch in Deutschland, aus Begeisterung für das Populäre fasziniert adaptierten Tänze sind meistens amerikanischen Ursprungs oder wurden dort popularisiert, bevor sie einen ähnlichen Erfolg auch in Deutschland entwickelten (Jeschke, 1999, S. 60). Mit der Popularität in elitären Kreisen ging gleichsam eine Aufwertung von vorab als 'primitiv' bezeichneter Tänze einher.


Paartanz und seine Bewegung durch Gesellschaftshierarchien

Cohen-Stratyner stellt eine Verbindung von Populärkultur zu gesellschaftlichen Klassenstrukturen her und definiert Popular Dance als eine Performance von sozialen und kulturellen Differenzen (Cohen-Stratyner 2001, 121, 123). Cohen-Stratyner und Klein interpretieren, dass sich Tanzphänomene durch Gesellschaftshierarchien über die Zeit nach unten bewegen (vgl. Cohen-Stratyner 2001, S. 121). Elitäre Tänze können sich so einerseits über die Zeit zu populären Tänzen entwickeln und ungeachtet einer spezifischen Schicht getanzt werden (vgl. ebd.). Gabriele Klein unterstützt diese These mit dem Soziologen Nobert Elias. Sie zitiert, dass „kulturelle Konventionen von den ‚oberen‘ zu den ‚unteren‘ Gesellschaftsschichten diffundieren“ (Klein 2014, S. 127) und fügt hinzu, dass die gegenteilige Bewegung von niedrigeren in höhere Gesellschaftsschichten ebenso stattfindet.

Helmut Günther und Helmut Schäfer erläutern in ihrem Buch Vom Schamanentanz zur Rumba – Die Geschichte des Gesellschaftstanzes (1993), dass Gesellschaftstänze, vor ihrer Praktik im elitären, höfischen Kontext, aus den Tänzen des Volkes entstanden seien (Günther und Schäfer 1993, 54 ff.) und damit sich auch von unten nach oben durch die Gesellschaftshierarchien bewegt haben.


Diese historischen und hierarchischen Prozesse, sowie kulturellen Prägungen der Autor*innen bewertet Cohen-Stratyner als Hindernis für die Definitionen von Paartanzformen (vgl. Cohen-Stratyner 2001, S. 121). Dieser Hintergrund zeigt sich auch bei der Betrachtung einer inkongruenten Verwendung der englischsprachigen Termini in tanzwissenschaftlichen Publikationen: So ist der Begriff ‚Social Dance‘ in der nordamerikanischen Tanzwissenschaft in einer besonderen Nähe zu Tänzen mit afro- oder lateinamerikanischen Wurzeln und afrikanischer Kultur zu finden (vgl. Malnig, 2009; Robinson 2015). Der Begriff ‚Ballroom Dance‘ wird hingegen eher in Bezug auf kompetitiven Gesellschaftstanz genutzt (vgl. Bosse 2007; McMains 2001) und ebenso für die afroamerikanische und lateinamerikanische Bewegung in der US-amerikanischen LGBTQ-Szene, welche keinen Paartanz beinhaltet (im Sinne von Black Lives Matter sehr empfehlenswert sich hier einzulesen). Auf europäische Publikationen bezogen, wird in der englischen Literatur ‚Ballroom Dance‘ in Verbindung mit höfischer Kultur, kompetitivem Gesellschaftstanz gebracht (vgl. Cresswell 2006).

Diese kleine Analyse der Terminologien aus dem Bereich Paartanz zeigt viele Unstimmigkeiten. Unter Berücksichtigung der vorausgegangenden Arbeiten folgt ein Ansatz einer Definition für den deutschsprachigen Raum.


3      Paartanz kurz und knackig definiert

Vor dem Hintergrund dieser differierenden Nutzung der Begriffe und den Schwerpunkten der Literatur nutze ich den Begriff ‚Paartanz‘ als Überbegriff für verschiedene Tanzphänomene, welche ein Tanzpaar betreffen, das sich

1.    …größtenteils mit den Händen fasst, führt und folgt

2.   …größtenteils mit den Körpern in der Senkrechten miteinander bewegt

3.   …zu Musik tanzt


So fallen Acro Yoga, Capoeira oder Contact Improvisation nicht unter den Begriff Paartanz, sondern sind unterschiedliche Formen von zweisamem Tanz. Die Tanzphänomene, welche ich dem Paartanz unterordne, sind der Gesellschaftstanz, der Volkstanz und der Social Dance:

Gesellschaftstanz wurde für gesellschaftliche Veranstaltungen und den Tanzsport standardisiert und wird in einem eher konventionellen Rahmen praktiziert. Hier verorte ich den Turniertanz und den Standard- und Lateintanz aus dem Welttanzprogramm der Gesellschaftstanzschulen, vornehmlich des Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverbandes.

Volkstanz definiere ich hingegen als Praktiken, welche sich für gewöhnlich aus einem familiären und kulturellen Netzwerk und zu diesem Netzwerk gehörenden sozial relevanten Ereignissen ergeben. Den Volkstanz setze ich gleich mit dem Vernacular Dance.

Social Dance bezeichnet Tänze, welche soziale Zusammenkunft und Interaktion betonen, die sich nicht unbedingt aus einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund ergeben, sondern durch die Aktion des Tanzens selbst. Im Gegensatz zum Volkstanz, bzw. Vernacular Dance, besteht hier kein familiärer Bezug, sondern mehr mögliche Anonymität und Hobbycharakter.


Wie bei sozialen Praktiken üblich, sind die Grenzen der einzelnen Tanzphänomene fließend. Ein Social Dance kann im Turnier getanzt werden, ein Gesellschaftstanz im familiären Netz erlernt werden und ein Volkstanz auf gesellschaftlichen Veranstaltungen getanzt werden. Jemand, der sich einen Vernacular Dance aneignet, ohne aus dem ursprünglichen kulturellen Netzwerk zu kommen, nutzt diesen Tanz als Social Dance. Populärtanz kann jeder Tanz werden, der von einer breiten Masse zum populären Trend auserkoren wird und mit der Zeit können Tänze, welche sich heute in der einen Kategorie einordnen lassen, in eine andere wandern oder aussterben. Also wozu überhaupt eine Definition?

Jedoch hängt an dem wissenschaftlichen Diskurs die Sichtbarkeit und Bedeutung von Tänzen und ganzen Tanzbranchen: Was wissenschaftlich gesehen wird, bekommt eine Lobby und das ist finanziell, politisch und künstlerisch sehr relevant.


4      Literaturnachweise

  • Cohen-Stratyner, Barbara (2001): Social Dance: Contexts and Definitions. In: Dance Research Journal 33 (2), S. 121.
  • Günther, Helmut; Schäfer, Helmut (1993): Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes. 3. Aufl. Stuttgart: Ifland.
  • Jeschke, Claudia (1999): Tanz als BewegungsText Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910 - 1965). Tübingen: Niemeyer (Theatron).
  • Klein, Gabriele (2014): Tanz als Aufführung des Sozialen. In: Konzepte der Tanzkultur, S. 125–144.
  • Kusser, Astrid (2013): Körper in Schieflage Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900. Transcript. Post-koloniale Medienwissenschaft.
  • Malnig, Julie (2009): Ballroom, boogie, shimmy sham, shake A social and popular dance reader. Urbana [u.a.]: Univ. of Illinois Press.
  • McMains, Juliet (2001): Brownface: Representations of Latin-Ness in Dancesport. In: Dance Research Journal 33 (2), S. 54.
  • McMains, Juliet (2019): Reclaiming Competitive Tango. In: Sherril Dodds (Hg.): The Oxford handbook of dance and competition. New York, NY: Oxford University Press (Oxford handbooks), S. 304–330.
  • Robinson, Danielle (2015): Modern moves. Dancing race during the ragtime and jazz eras. New York, NY: Oxford University Press.

   

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